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Titel
Bewegte Fronten. Der Zerfall Jugoslawiens in der serbischen Stadt Valjevo und der Einsatz lokaler Truppen auf den Schlachtfeldern Ostslawoniens (1985 bis 1992)


Autor(en)
Lučić, Robert
Reihe
Balkanologische Veröffentlichungen (67)
Erschienen
Wiesbaden 2020: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
XII, 330 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Zaugg, Universität Fribourg / Universität Bern

Der Staatszerfall und die darauffolgenden blutigen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien jährten sich dieser Tage zum dreißigsten Mal und waren bereits vielfach Gegenstand journalistischer Berichte und wissenschaftlicher Studien. Auch Robert Lučićs Dissertation ist ihnen gewidmet, allerdings wählte er einen neuen Zugang, indem er in seiner Lokalstudie die Vorgänge auf der Makroebene mit solchen auf der Meso- und Mikroebene verknüpft und den Leser:innen dabei die gegenseitige Beeinflussung und Wechselwirkung zwischen Zentrum (Belgrad) und Provinz (Valjevo) aufzeigt. In seiner Untersuchung will er durch die Analyse von Bewohner:innen, Belegschaften und politischen Entscheidungsträger:innen einer Provinzstadt Aspekte und Zusammenhänge in den Vordergrund rücken, die bei einem Fokus auf politische Schlüsselzentren oft vergessen werden.

Sein Buch beginnt mit der ausklingenden Ära des jugoslawischen Sozialismus in den Jahren nach Josip „Tito“ Broz‘ Tod 1980. Dabei zeigt er in seiner Einleitung anhand der vier Unterkapitel „Management der Wirtschaftskrise“, „Wandel des institutionellen Gefüges“, „Krise und Nationalismus“ und „Militärorganisation auf Gemeindeebene“ den Status Quo und sich abzeichnende, zuerst geringfügige, dann offensichtlich werdende Veränderungen im Auftreten und der politischen Ausrichtung verschiedener Akteure auf lokaler und nationaler Ebene auf.

Lučic integriert seine Ausführungen zu Theorien und Methoden in das Unterkapitel zur Militärorganisation, wenngleich diesem Teil aufgrund seines Umfangs ein eigenes Kapitel zugestanden hätte. Er untermauert seine Studie mit Theorien zu Macht und Gewalt von Hannah Arendt, Max Weber, Heinrich Popitz, Jan P. Reemtsma, Niklas Luhmann oder Byung-Chul Han.1 Dabei misst er der Art und Weise von Gewaltausübung eine wesentliche Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der Frage zu, weshalb eine multiethnische Volksarmee so rasch in eine „ethnisierte“ und mit paramilitärischen Gruppen kooperierende Streikraft umgewandelt werden konnte (S. 14). Bei seinen Recherchen konzentrierte sich Lučić einerseits auf bereits bestehende nationale und internationale Forschungsergebnisse, auf serbische Medien wie Napred, Borba, Večernje Novosti, Politika Ekspres sowie zeitgenössische wirtschaftliche und militärische Fachzeitschriften, andererseits auch auf Bestände des Stadtarchivs Valjevo.

Im Hauptteil seiner Arbeit geht Lučić zunächst auf die sich verändernden Wirtschaftsstrukturen in der Provinzstadt Valjevo 1985–1987 ein, die sich langsam aus Titos Schatten zu lösen begannen. Dabei spielte nicht nur der Bürgermeister Dušan Mihajlović eine herausragende Rolle, sondern auch die Waffenfabrik „Krušik“ und ihr oberster Chef Dragan Todorović, ein überzeugter Jugoslawe und Oberstleutnant in der Volksarmee sowie bedeutendster Arbeitgeber der Region. Valjevo war es wirtschaftlich gut ergangen, die „städtische Prosperität“ stand dabei in einem krassen Gegensatz zur „ländlichen Unterentwicklung“ (S. 23). Im noch sozialistischen Staatssystem, insbesondere seit der Verfassungsreform 1974, kam der Gemeinde eine zentrale Rolle zu.

Seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre regierte Slobodan Milošević, der mit seiner Politik soziale Ängste schürte und diese mit Blick auf die sich anbahnenden Zerfallsprozesse im sozialistischen Jugoslawien mit der sogenannten Solidaritätsbewegung für die Serb:innen im Kosovo verknüpfte. Lučić skizziert im Folgenden die angespannte Situation der Serb:innen und Montenegriner:innen in Kosovo, versäumt es aber, diese zu kontextualisieren. Ethnische Albaner:innen in Kosovo besaßen zwar seit 1974 mehr Rechte als vorher, wurden aber sowohl nach den Unruhen 1968 als auch nach 1981 oft Opfer von Übergriffen und Verfolgung. Die prekäre Situation serbischer Kosovar:innen hing somit eng mit dieser Entwicklung und dem einsetzenden serbisch-nationalistischen Diskurs zusammen, die ein bestimmtes Narrativ verfestigten. Auch der in diesem Zusammenhang vom Autor übernommene problematische Begriff des „Genozids“ (S. 48), worunter die Behauptung subsumiert wird, dass durch die hohe Geburtenrate ethnischer Albaner:innen in Kosovo die Serb:innen verdrängt würden, hätte wissenschaftlich erläutert werden müssen.

Lučić zeigt weiter auf, wie sich Angst und Unzufriedenheit lokaler Arbeiter:innen vermehrt in Streiks äußerten. Dabei kam es zu einer zunehmenden Vermischung zwischen Streikenden und den nationalistischen Anhänger:innen Miloševićs, darunter auch mit der bereits genannten „Solidaritätsbewegung“. Im Zuge solcher Schulterschlüsse schaffte Mihajlović den Sprung von Valjevos Bürgermeister zum stellvertretenden Regierungschef in Belgrad. Auch Denkmälern und Gedenkfeiern kam nun eine neue Bedeutung zu: Sie lösten sich aus dem sozialistischen Rahmen und ließen jugoslawische Helden wie Miša Pantić und Žikica Jovanović-Španac in einem nationalistischen Licht erscheinen. Um an ihrer Einweihung teilzunehmen, reiste Milošević sogar nach Valjevo. Einen Schritt weiter gingen die Denkmalsetzungen für Vuk Stefanović Karadžić und Živojin Mišić, „die den nationalen Wandel im Vergangenheitsbezug sinnbildlich“ machten (S. 69), indem sie auf Figuren einer serbischen und nicht mehr einer jugoslawischen Geschichte verwiesen.

Eine weitere Eskalation in Richtung Krieg waren die ersten öffentlichen Wahlen mit einer Vielzahl neuer Parteien. Dazu zählen etwa die extrem nationalistische Liberale Partei (LS). Diese koalierte in Valjevo mit anderen rechtsnationalen Parteien, wie die Serbische Erneuerungsbewegung (SPO), die Serbische Četnikbewegung (SČP) oder die Serbische Heilig-Sava-Partei (SSSS). Mihajlović gründete eigens für die Wahlen die Partei Neue Demokratie (ND) und fiel damit Milošević in den Rücken, der auf seine Unterstützung gezählt hatte. Dieser neue Pluralismus ging mit einem schwindenden Einfluss der sozialistischen Partei unter Milošević einher. Diesem wiederum gelang ein gekonnter Schachzug, indem er der Partei den Bund der Werktätigen einverleibte und sich der Armee annäherte. So gerieten diese beiden staatstragenden Organisationen seit spätesten Anfang 1990er-Jahre in das Gravitationsfeld des serbischen Nationalismus.

Schließlich gipfelten der Nationalismus und die „Solidaritätsbewegung“ mit der serbischen Minderheit in Kroatien im Sommer 1991 in der Mobilisierung für die (noch) jugoslawische Armee. Dies bedeutete jedoch, so Lučić, gleichzeitig ihr Ende. Anhand des Kroatienfeldzugs und der Rekruten von Valjevo erklärt er, wie aus der jugoslawischen in nur wenigen Monaten eine serbische Armee wurde und warum diese rasch begann, mit paramilitärischen Gruppen zusammenzuarbeiten. Diese wiederum wurden vom serbischen Geheimdienst militärisch ausgestattet. In diesem Zusammenhang beschreibt Lučić auch den schweren Stand der Deserteure aus Valjevo, die nicht etwa als Verfechter ethnischer Vielfalt anerkannt, sondern als Verräter öffentlich kritisiert und diffamiert wurden. In dem nun folgenden Schamdiskurs gerieten auch Prominente, die für die Deserteure Verständnis aufbrachten, in den Fokus der Kritik. Dazu zählte beispielswiese der Chefintendant des lokalen Radiosenders in Valjevo. Hingegen konnten nun auch Kriegsuntaugliche oder in paramilitärischen Gruppen organisierte Personen als Freiwillige am Krieg in Kroatien teilnehmen. Anhand verschiedener Interviews mit Veteranen zeigt Lučić im letzten Teil der Arbeit die Verquickung von Angst, traumatisierender Erfahrung und gesteigerter Virgilität auf, die als Motor für eigenes Gewalthandeln dienten.

Die vorliegende Studie ist eine Bereicherung für die historische Erforschung der Jugoslawienkriege der 1990er-Jahre, indem sie aufzeigt, wie eng lokale Ereignisse mit nationalen Entwicklungen verbunden waren – und umgekehrt. Hervorragend analysiert Lučić die Orientierungslosigkeit und Sinnsuche in einem ökonomisch und gesellschaftlich zunehmend destabilisierten Staat auf.2 In seinem Buch erklärt er in einzelnen Schritten sowie anhand konkreter Akteure und Institutionen komplexe Wechselwirkungen zwischen Belgrad und lokalen Machtverhältnissen. Dabei offenbart sich eindrücklich, wie eine sich immer rascher drehende Spirale angedrohter Gewalt schließlich in angewandte Gewalt eskalierte. Mit genannter Herangehensweise zeigt Lučić gekonnt auf, dass Politik, Nationalismus und der letzte Schritt in Richtung Krieg in hohem Maße von einzelnen Akteuren abhängen, die fähig sind, große Massen für sich zu gewinnen und in eine bestimmte Richtung zu lenken. Lučićs Studie trägt nicht zuletzt zum Verständnis politischer Heterogenität auf allen Seiten bei, die bei der Diskussion über Staatszerfall, darauffolgende Kriege und im erinnerungskulturellen Diskurs im post-jugoslawischen Raum oft im Hintergrund oder bewusst unerwähnt bleiben.

Anmerkungen:
1 Grundlegende Werke bilden dabei etwa Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1970, oder Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008.
2 Eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage des Staatszerfalls bieten auch folgende Artikel: Dejan Jovic, The Disintegration of Yugoslavia: a Critical Review of Explanatory Approaches, in: European Journal of Social Theory 4 (2001) 1, S. 101–120 und Jasna Dragovic-Soso, Why Did Yugoslavia Disintegrate? An Overview of Contending Explanations, in: Lenard J. Cohen / Jasna Dragovic-Soso (Hrsg.), State Collapse in South-Eastern Europe. New Perspectives on Yugoslavia’s Disintegration, West Lafayette 2007, S. 1–39.

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